Die heutigen Pins, also Anstecker, die Treue und Zugehörigkeit zu einem Verein zeigen, gab es schon im Kaiserreich. Diese Abzeichen standen auch damals häufig für ein politisch-weltanschauliches Statement – ganz so, wie es manche Pins heute noch tun.
Ein Beitrag von Dr. Klaus Pirke
„Irgendwo war jeder organisiert, viele in zwei, drei oder mehr Vereinen“[1], schrieb der Historiker Klaus Tenfelde über das Vereinswesen an Rhein und Ruhr um 1900. Tausende von Vereinen boten den Menschen in der Region eine verblüffend bunte Palette an Inhalten. Und sie organisierten große Teile des geselligen Lebens im Kaiserreich.
Die vier Vereins-Abzeichen, die in der neuen Dauerausstellung des LVR-Industriemuseums Zinkfabrik Altenberg zu sehen sein werden, entstanden vermutlich kurz nach 1900. Zu diesem Zeitpunkt war die Gesellschaft tief gespalten. Deutliche Klassenunterschiede prägten das Denken der meisten Deutschen. Die Klassengesellschaft, die dafür verantwortlich war, teilte die Bevölkerung strikt nach sozialer Herkunft – und spaltete so die Bevölkerung. Für das Industrieland an Rhein und Ruhr hieß das: hier die Bevölkerungsmehrheit aus der Arbeiterschaft, dort das zahlenmäßig deutlich kleinere Bürgertum. Einen Hauptkonflikt hinter dieser Spaltung hatte Philosoph und Gesellschaftstheoretiker Karl Marx schon 1867 beschrieben. Auf der einen Seite dieses Gegensatzes sah er die Interessen der Arbeit, konkreter die der besitzlosen Arbeiter*innen, die nichts außer ihrer Arbeitskraft zu vermarkten haben. Dem gegenüber stehen die Interessen des meist bürgerlichen Kapitals, das den Arbeiter*innen zwar einen für das Überleben benötigten Lohn zahlt, allen mit ihrer Produktions-Arbeit erzielten Gewinn jedoch einbehält.
Wie unüberwindlich die Klassengrenzen vor 1914 nicht nur für Marxist*innen waren, zeigt anschaulich das Vereinswesen. Dort hatten sich gegen Ende des Kaiserreichs längst zwei ‘Parallelwelten‘ entwickelt. Selbstbewussten Bürgervereinen standen ebenso stolze Arbeitervereine gegenüber, und ein Teil dieser Vereine vertrat durchaus unversöhnliche Positionen hinsichtlich der jeweils anderen Klasse. So lehnten es beispielsweise die meisten bürgerlichen Sportvereine um 1900 ab, Arbeiter*innen aufzunehmen. Und mehr noch, auch in Wettbewerben mochte man nicht mehr gegen Sportler*innen aus der Arbeiterklasse antreten. Diese sahen das genauso kompromisslos, besonders dann, wenn sie der sozialistischen Arbeiterbewegung um die SPD nahestanden. Dieser klassenkämpferische Teil der Arbeiterschaft hatte schon vor 1900 damit begonnen, eigene Turn- und Sportorganisationen mit eigenen Ligen und Turnieren aufzubauen.

Vereine in der Klassengesellschaft: Arbeitervereine zur Zeit der Industrialisierung
Aus diesem Teil des Arbeitersports stammen die beiden Arbeitervereins-Abzeichen für die neue Dauerausstellung. Die Nadel des Arbeiter-Turnerbundes (ATB) trug schon vor 1919 eine klassenbewusste Arbeiterturner*in, denn in dem Jahr benannte sich dieser Bund in Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) um. Arbeiterturner hatten zunächst unter dem Dach der bürgerlichen Deutschen Turnerschaft (DT) mitgeturnt. 1893 gründeten Arbeitervereine dann nach politischen Querelen den eigenen Dachverband ATB, da die bürgerliche Turnerbewegung von ihnen als zu reaktionär empfunden wurde. Dass die bürgerlichen Turner ein halbes Jahrhundert früher unter Friedrich Ludwig Christoph Jahn (1778-1852) – bekannt als Turnvater Jahn – zwar national, dabei aber durchaus fortschrittlich orientiert gestartet waren, änderte daran nichts. Ein ATB-Flugblatt von 1906 formulierte den klassenkämpferischen Auftrag des Turnens in einem Gedicht an die Arbeiterjugend so:
„Drum, frisch ans Werk! Gelobt es heute: »Wir wollen fleißig turnen gehen«,
Damit uns einst im großen Streite Mut, Selbstvertraun zur Seite stehn.“[2]
Arbeiter-Turnerbund
1914 waren im ATB reichsweit 2.300 Arbeiterturnvereine mit über 190.000 Turner*innen organisiert. Die bürgerliche DT wies zu dem Zeitpunkt etwa fünfmal so viele Mitglieder auf.

Ähnlich klassenkämpferisch wie der ATB verstand sich auch der 1896 gegründete Arbeiter-Radfahrer-Bund Solidarität (ARBS), von dem das zweite Abzeichen stammt. Wie das Turnen war auch der Radsport kein reiner Selbstzweck: Die Körperbeherrschung, die Fitness sowie das solidarische Erlebnis des gemeinsamen Radwanderns dienten zwar der ganz persönlichen Entwicklung der Mitglieder, zugleich aber immer auch der Ertüchtigung der Radler*innen für zukünftige revolutionäre Ereignisse. Dieser Anspruch führte auch zur inoffiziellen Bezeichnung der ARBS-Mitglieder als „rote Husaren des Klassenkampfes“.
Vereine in der Klassengesellschaft: Bürgerliche Vereine im Kaiserreich
Dem gegenüber zeugen die beiden bürgerlichen Kriegervereins-Abzeichen von soldatischer Traditionspflege und kameradschaftlichen Netzwerken, vor allem aber von nationalistischer Treue zur Monarchie und zum Kaiser. Mit den „vaterlandslosen Gesellen“ in den Vereinen der sozialistischen Arbeiterbewegung wollten die Kriegervereine nichts zu tun haben. Seit 1873 bestand der Deutsche Kriegerbund (Abzeichen links), der schon bei der Gründung 28.000 Mitgliedern in 241 örtlichen Kriegervereinen als Dachverband diente. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der organisierten Gedienten rasant an. 2,8 Millionen Mitglieder in 32.000 Vereinen waren es 1914. Ihr Dachverband war nun der Kyffhäuser-Bund von 1899, dem sich auch der Deutsche Kriegerbund anschloss. Ebenfalls Teil des Kyffhäuser-Bundes waren die Landeskrieger-Verbände – vom preußischen Landeskrieger-Verband stammt das zweite Abzeichen.

Die Kriegervereine gaben sich seit ihren Anfängen zu Beginn des 19. Jahrhunderts formal unpolitisch. Eine ihrer Hauptaufgaben war die Unterstützung in Not geratener Mitglieder, zunächst vor allem durch Übernahme der Beerdigungskosten des Betroffenen. Das taten andere Vereine auch – eine klassische Solidarkassenfunktion in einer Zeit ohne jede staatliche Sozialversicherung. Und doch waren die Kriegervereine weit mehr und alles andere als unpolitisch. Sie transportierten die zeitgenössischen militärischen Werte auch ins Zivilleben – allen voran den unbedingten Gehorsam. Obrigkeitshörigkeit vermittelten sie auch Reservisten ohne Kriegserfahrung. Und schon in der bürgerlichen Revolution von 1848 standen die meisten der Vereine nicht aufseiten der Demokratie.
Im Kaiserreich (ab 1871) politisierten sich die Kriegervereine weiter und gewannen mit ihrem raschen Wachstum ganz erheblich an Einfluss. In Preußen schloss man dabei schon 1891 Sozialdemokraten und jede Person, die man der Nähe zur sozialistischen Arbeiterbewegung verdächtigte, aus. Erfolgreich bildeten die Vereine ein „Bollwerk gegen den Marxismus“, ein bürgerlich-konservatives, monarchistisches Gegengewicht zur Massenbewegung der politisierten Arbeiterschaft. Dabei gelang es, jenen Teil der Arbeiterschaft nicht zu verlieren, der nicht sozialistisch, sondern eher konservativ dachte und häufig parallel zum Kriegerverein fest in konfessionellen Vereinen verwurzelt war. Was man jedoch von Sozialist*innen zu halten hatte, formulierte ein Handbuch für Kriegervereine 1906 so:
„Die Sozialdemokraten höhnen über Vaterlandsliebe, sie haben kein Vaterland mehr, … sie schmähen unsere großen Männer und ihre Frechheit macht nicht einmal vor der ehrwürdigen Gestalt Wilhelms des Großen Halt. … Der Hauptzweck des jetzigen Kriegervereinswesens ist also geworden, Monarchentreue und Vaterlandsliebe zu pflegen und der Sozialdemokratie entgegenzutreten.“[3]
aus einem Handbuch für Kriegervereine
Historische Vereine in der neuen Dauerausstellung: Vereine gründen als Bürgerrecht?
In der neuen Dauerausstellung thematisieren die vier Vereins-Abzeichen die Klassengesellschaft des Kaiserreichs, indem sie Besuchenden die zwei beschriebenen, strikt getrennten und 1914 längst nicht mehr kompatiblen Vereinswelten zeigen: hier den klassenkämpferischen Teil einer vielfältigen Arbeiter-Vereinslandschaft, dort die ‚säbelrasselnden‘ Kriegervereine aus dem ebenfalls weit vielfältigeren bürgerlichen Vereinsspektrum.
Trotz dieser tiefen Spaltung entstammten beiden Seiten derselben Wurzel, nämlich einer Bürgerrechts-Bewegung, die sich bis in unsere Zeit auswirkt: Um 1800 waren Vereine, die dann im 19. Jahrhundert rasant an Bedeutung gewannen, ein rein bürgerliches Phänomen gewesen. Das an Bedeutung und Einfluss gewinnende Bürgertum gründete sie mit wachsendem Selbstbewusstsein, denn das Recht auf eine freie Vereinigung von Bürger*innen – unsere heute im Grundgesetz garantierte Koalitionsfreiheit – musste gegen erhebliche Widerstände jahrzehntelang erstritten werden. Der Grund: Vereinen als freiwilligen und selbstverwalteten Zusammenschlüssen setzte der Staat zwar noch strenge gesetzliche Rahmenbedingungen, direkt lenken konnte er sie aber nicht. Der Aufstieg des Vereinswesens vor 1914 ist also auch die Erfolgsgeschichte eines Bürgerrechts. Eine Erfolgsgeschichte, die man freilich relativieren muss. So blieb den Vereinen zunächst für viele Jahrzehnte jede Form von Politik verboten. Dieses Verbot gab dem Staat neben dem nur sehr eingeschränkten Versammlungsrecht eine weitere Waffe gegen alle unliebsamen politischen Strömungen.
[1] Tenfelde, Klaus, Bergmännisches Vereinswesen im Ruhrgebiet während der Industrialisierung, in: Reulecke, Jürgen / Weber, Wolfhard, Fabrik, Familie, Feierabend, Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978. S. 315-344, S.334.
[2] Schmidtchen, Volker, Arbeitersport, Erziehung zum sozialistischen Menschen?, Leitwerte und Jugendarbeit in zwei Ruhrgebietsvereinen in der Weimarer Republik, in: Reulecke, Jürgen / Weber, Wolfhard, Fabrik, Familie, Feierabend, Beiträge zur Sozialgeschichte des Alltags im Industriezeitalter, Wuppertal 1978. S. 345-376, S.357.
[3] Bold, Annkatrin, Die Kriegervereine als Träger des Nationalismus im Kaiserreich, Das Beispiel des Krieger- und Militärvereins Greven (1871-1914), in: Grevener Geschichtsblätter 7 (2012/2013), S. 4-22.