Lineol-Massefigur "Großer Granateinschlag", 7 x 7,4 x 2,9 cm (HBT), gehört zu Soldatenfiguren-Serie 7,5 cm, Lineol Katalog Nr.: 5/125/2; zu finden in den Lineol-Katalogen "Lineol-Bilderbuch" 1934/35 bis 1938/39 Ankauf durch K. Pirke 27.11.2019

Neues Zeug: Der „große Granateinschlag“

Das Industriemuseum kann auch klein: Eine Spielzeugfigur von sieben Zentimetern hat manchmal alles, was ein gutes Ausstellungsstück braucht.

Ein Beitrag von Dr. Klaus Pirke

Heute wirkt diese Figur vielleicht verstörend in Kinderhand, doch früher war sie ein begehrtes Spielzeug: Den „großen Granateinschlag“ bot der Spielzeughersteller Lineol in den 1930er Jahren an. Aus seiner Katalognummer ergibt sich, dass er das Lineol-Werk in Brandenburg an der Havel wohl zwischen 1934 und 1939 verlassen hat.

Solche sogenannten Massefiguren kamen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Spielzeugmarkt. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten sie die älteren Zinnfiguren schon weitgehend verdrängt. Mit „Masse“ ist ihr Ausgangsmaterial gemeint. Das wurde nach meist geheimen Hersteller-Rezepten aus Naturzutaten gemischt: Hinein kamen vor allem Knochenleim, Holzmehl und Pflanzenabfälle aus Mühlen sowie Kreide oder Kaolin, aus dem man Porzellan macht. Im Hause Lineol kamen noch das namensgebende Leinöl und Baumharze hinzu. Die Masse wurde je nach Hersteller in Formen gegossen oder wie bei Lineol gepresst. Beliebt waren die Figuren vor allem wegen ihrer Qualität bei günstigen Preisen. 25 Pfennig kostete 1938 der „große Granateinschlag“. Der Detailreichtum, den meist noch eine aufwändige Handbemalung unterstrich, wurde jahrzehntelang von Kindern geschätzt. Die Firma Lineol, die 1906 ihre Produktion aufnahm, beschäftigte mit dem Porzellankünstler Albert Caasmann (1886-1968) einen ausgewiesenen Fachmann. Er betreute die Gestaltung von über 600 Lineol-Figuren – darunter wahrscheinlich auch den „großen Granateinschlag“.

Geradezu „niedlich“ wirkt diese Detonation einer Weltkriegs-Granate, denn sie reicht den dazugehörigen Soldaten der 7,5 cm-Figurenserie nur bis ans Kinn. Und dabei ist die Figur schon doppelt so hoch wie der ebenfalls in dieser Lineol-Serie erhältliche „kleine Granateinschlag“. Dennoch blendet die Figurenserie die schwerwiegenden Folgen militärischer Auseinandersetzungen nicht gänzlich aus: So gibt es dort auch Figuren, die tote, allerdings optisch unversehrte Soldaten darstellen – ein allerdings nicht sehr realistisches Todes-Szenario angesichts der mörderischen Artilleriegefechte des Ersten Weltkrieges, auf den sich diese Soldatenserie bezieht. Aber es ging den Entwicklern und Albert Caasmann letztendlich doch um Kinderspielzeug, so vielseitig auch die darstellbaren militärischen „Szenen“ ausfielen: Vom fröhlichen Lagerleben um das elektrisch beleuchtete Lineol-Feuer über die verschiedensten Kampfszenen bis hin zur Bergung von Toten oder Verwundeten auf Lineol-Tragen und -Fahrzeugen war alles möglich.

Die Figurenhersteller profitierten von der zeitweise riesigen Militär-Begeisterung, die besonders Jungen schon lange vor dem Ersten Weltkrieg zeigten und zu der die Erziehung im Kaiserreich sie anspornte. Vergleichbare Granateinschläge gab es bereits vor Lineol & Co. auch in Zinnsoldatenserien. Kriegsspielzeug nutzt stets die kindlich-naive Begeisterungsfähigkeit, und es nutzt sie zugleich aus. Als der „große Granateinschlag“ in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur hergestellt wurde, förderte das Lineol-Spielzeug dabei nicht nur militärischen Geist und antidemokratische Machtfantasien vom „Recht des Stärkeren“, sondern die Firma ging deutlich weiter: Auch das Führungspersonal der Diktatur konnte man sich für wenige Groschen ins Kinderzimmer holen. Dazu boten die Lineol-Kataloge neben Indianern, Bauern, Zootieren, Wehrmachts- und anderen Soldaten unter anderem die passende 7,5 cm-Figur „Der Führer“ an. Hitler gab es sitzend, stehend und mit „beweglichem Grußarm“. Ergänzen konnten ihn die Kinder durch weitere Nazi-Prominenz. Oder sie ließen ganze Trupps der nationalsozialistischen Kampforganisationen SA und SS mit ihren Musikkapellen zur Parade antreten.

Junge beim Spielen mit Lineol-Soldaten, 1930er Jahre, Sohn eines Drogeriebesitzers in Brandenburg an der Havel
Foto: Stadtmuseum im Frey-Haus, Brandenburg an der Havel

Und heute? Von Kindern „bespielt“, wie das erwachsene Figurensammler nennen, werden Militärfiguren auch noch nach zwei Weltkriegen. Hersteller bieten sie nun in zeitgemäßen Kunststoffen und oft unbemalt an. Das macht sie wie seinerzeit die Lineol-Figuren preiswert. Auch einige der originalen Lineol-Modelle aus der Zeit vor 1945 sind neu aufgelegt wieder erhältlich, heute allerdings eher als teure Sammlerstücke in Spritzguss-Kunststoff und wie früher handbemalt.

In der neuen Dauerausstellung des Museums wird der „große Granateinschlag“ voraussichtlich aus seiner Entstehungszeit berichten: Kaum 20 Jahre nach den mörderischen „Materialschlachten“ des Ersten Weltkriegs war das Bild des Kriegers und des Krieges in vielen Kinderzimmern immer noch ein heldenhaftes. Und immer noch – oder schon wieder – gehörte zum Heldenkult der Gedanke, dass es „süß und ehrenhaft ist, fürs Vaterland zu sterben“. Ein Vers des römischen Dichters Horaz, gut 2.000 Jahre alt. Nicht nur Lateinlehrer waren es, die mit ihm junge Männer auch schon in den Ersten Weltkrieg geschickt hatten.

Anmerkung zum Beitragsbild: Lineol-Massefigur „Großer Granateinschlag“, 7 x 7,4 x 2,9 cm (HBT), gehört zu Soldatenfiguren-Serie 7,5 cm, Lineol Katalog Nr.: 5/125/2; zu finden in den Lineol-Katalogen „Lineol-Bilderbuch“ 1934/35 bis 1938/39

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