Nachdem im ersten Teil des Beitrags die Ursprünge der Industriemuseen beleuchtet wurden, werden nun die Schlüsse für die aktuellen Aufgaben und Entwicklungen gezogen. Auf dieser Basis wird sich auch der Umbau des Museums in der Zinkfabrik Altenberg bewegen.
Ein Beitrag von Dr. Walter Hauser
Wo stehen wir heute?
Manche der anfänglichen, im ersten Teil des Beitrags dargestellten Motive sind also weiter aktuell: die Wertschätzung der Alltagskultur, der anti-elitäre Anspruch einer Kultur für alle, das Einbeziehen der Orte und der „Nutzer*innen“. Andere Motive erscheinen in einem anderen Licht: Nicht zufällig entstanden die Museen ja zu einem Zeitpunkt, als Arbeitsplätze in rascher Folge verlorengingen – die Industriemuseen waren ein Endzeitphänomen. Nun wäre es übertrieben zu behaupten, dass die Strukturkrise überwunden wäre, aber der Prozess der Deindustrialisierung ist weitgehend Geschichte. In der Distanz zur Lebenswelt Fabrik liegt heute eine Chance: Distanz schafft Räume der Reflexion – in einer Institution, der der Umgang mit Fremdheit vertraut ist. Überspitzt gesagt: Was für das 19. Jahrhundert das Museum der Antike leistete, nämlich im Spiegel der längst vergangenen Antike das eigene Zeitalter in seinen kulturellen Prägungen zu erkennen, das leistet das Industriemuseum für unser postindustrielles Zeitalter, das weit weniger post-industriell ist als es scheinen mag. Im Blick zurück begreifen wir erst, wie sehr wir durch das Erbe des Industriezeitalters geprägt sind. Das ist die besondere Gegenwartsrelevanz der Industriemuseen und der Industriekultur.
Typen von Industriemuseen
Der „authentische Ort“ ist für die meisten Industriemuseen Ausgangspunkt des musealen Konzepts. Und insofern dieser einzigartig ist, ist er für die Museen im Wettbewerb mit anderen Museen ein wertvolles Alleinstellungsmerkmal. Trotz dieser Gemeinsamkeit: das Industriemuseum gibt es nicht. Industriemuseen sind so heterogen wie kaum eine andere Museumssparte. Das hat viel mit diesen Orten zu tun, die extrem unterschiedlich in Größe und Erhaltungszustand sein können. Ich möchte dies an Beispielen verdeutlichen.
Das Museum als Zeitkapsel
Dieser Typ setzt die vollständige Erhaltung nicht nur der Gebäude, sondern auch des gesamten Inventars voraus, bis hin zu funktionsfähigen Maschinen. Der Besuch eines solchen Museums ist eine Reise in eine andere Welt, woher der Begriff „time capsule“ rührt. Solche Museen verdanken sich glücklichen Umständen wie bei der Tuchfabrik Müller in Euskirchen, heute LVR-Industriemuseum. Sie war 1961 von ihrem Besitzer geschlossen worden. In der Hoffnung, sie irgendwann wieder hochfahren zu können, beließ er sie in dem Zustand, in dem er sie geschlossen hatte, über ein Vierteljahrhundert lang. In diesem Zustand übernahm der LVR die Anlage, restaurierte und dokumentierte sie und öffnete sie 2000 als ein Museum, in dem Maschinen vorgeführt werden und Wolltuch produziert wird.
Es gibt so gut wie keine neuen Ausstellungselemente in der Fabrik – die Besucher*innen werden durch die weitgehend authentisch belassene Anlage geführt; erst in jüngster Zeit wurde das Fabrikinventar behutsam durch Hörstationen und Projektionen ergänzt. Arbeit ist nie „authentisch“ darstellbar, aber wo die Maschinen nach Öl riechen, lärmen, den Boden zittern lassen, vermittelt sich mehr als anderswo, was sie bedeutet. Dieser Typ des „lebenden Industriemuseums“ ist nahezu zeitlos.

Ganz anders ist die St-Antony-Hütte in Oberhausen. Hier ist von der Fabrik nichts erhalten außer dem Kontorgebäude und Fundamente der Anlagen, die als Ausgrabung präsentiert sind. Wenig authentische Substanz, und doch ein eindrücklicher Identitätsort. Das hat damit zu tun, dass es sich um die „Wiege der Ruhrindustrie“ handelt, die zum Gründungsmythos des Ruhrgebietes gehört.
Sozialer Treffpunkt – „Dritter Ort“?
So lebendig ein authentischer Ort sein kann, so statisch ist er: es soll ja nichts verändert werden. Das ist für den Kulturbetrieb, der ständig Neues sucht, ein Problem. Umso wichtiger ist es, diese Orte zu öffnen. In Euskirchen etwa ist die Fabrik Ort für Autorenlesungen, Feste und Märkte; im Neubau gibt es Ausstellungen, die uns den Spiegel einer durch die Industrialisierung geprägten Kultur vorhalten, wie zum Beispiel die Ausstellung „Mythos Neue Frau“, die der Frage nachging, wie in den 1920er Jahren ein neues Frauenbild entstand – durch die Erfordernisse einer neuen industriellen Arbeitswelt.
In den Industriemuseen steckt Potential, sich zu sozialen Foren und niedrigschwelligen Orten der Kultur zu entwickeln. Das gilt gerade für kleine Museen an der Peripherie. Dort, wo sich der öffentliche Raum zurückzieht, können sie die Funktion eines Treffpunkts einnehmen. Solche Orte fehlen; in der kulturpolitischen Diskussion redet man davon, „Dritte Orte“ zu entwickeln: nicht-kommerzielle Räume, bottom-up, niedrigschwellig, lokal verankert, von Ehrenamt mitgetragen. In gewisser Weise greift das Ideen derer auf, die sich einst die Zinkfabrik aneigneten.
Industriemuseen waren einst Keimzellen der Quartiersentwicklung, und sie können es immer noch sein. Ein Beispiel ist das TextilWerk Bocholt des LWL-Industriemuseums, ein Standort in einem von der Textilindustrie geprägten Stadtteil, der zum Nukleus einer städtebaulichen Quartiersentwicklung wurde. Die jüngste Erweiterung des Museums versteht sich mehr als Kulturforum denn als Museum, das Nachbar*innen, Künstler*innen oder angehende Textildesigner*innen einlädt, mit textilen Materialien zu arbeiten. Ein anderes Beispiel ist die Solinger Gesenkschmiede, wo sich die Stadt bis heute mit der Schneidwarenindustrie identifiziert. Dort treffen sich Vereine, dort finden Feste statt – dort geht man hin.
Außerschulischer Lernort
Industriemuseen trieben seinerzeit den Aufbruch der Museen vom Musentempel zum Bildungsort voran. Museumspädagogik gehörte von Anfang an dazu. Dort, wo das Interieur weitgehend erhalten ist, wurde nur behutsam in die Räume eingegriffen; in letzter Zeit mancherorts durch spielerische Elemente, die technische Aspekte der Produktion „hands-on“ erfahrbar machen. Damit reagiert das Industriemuseum auf die zunehmende Bedeutung der MINT-Kompetenzen für Schulen, ohne dabei zum Science Center zu werden. Wir greifen diese Aspekte nicht abstrakt auf, sondern immer im konkreten Kontext der Produktion – interdisziplinär. Das ist manchmal schwierig für die Schulen umzusetzen. Aber das ist letztlich ein Vorteil der Industriemuseen gegenüber Science Centern. In Völklingen macht das Ferrodrom das vor. Wir machen das im Kraftwerk Ermen & Engels in Engelskirchen mit einer Stromwerkstatt, in der man sich nicht nur technisch mit Fragen der Energiegewinnung auseinandersetzt.
Das hybride Museum
Ein junges Beispiel für ein Industriemuseum, das Geschichte und Zukunftsfragen verbindet, ist das Energeticon auf der Grube Anna in Alsdorf bei Aachen. Es ist zum einen Erinnerungsort an den Steinkohlenbergbau, zum anderen ein Ort der Energiebildung, der sich der Energiewende widmet. Ein Beispiel dafür, wie sich Industriemuseen hybridisieren. Sie sind oft Gedenkstätten, technische Museen, regionalhistorische Museen und Identitätsorte zugleich. Und mit ihren Themen entwickeln sie sich zu Orten, die hinter die Kulissen unseres vermeintlich postindustriellen Zeitalters schauen. Ein so verstandenes Industriemuseum ist, so sehr es den Gründungsideen verbunden bleibt, anpassungsfähig, zukunftsfähig und unverwechselbar.
