Historische Kleidung im Museum: Von Körpern und Kleidern

„Was nicht passt, wird passend gemacht!“- so könnte das Motto der Textilrestaurierungswerkstatt am LVR-Industriemuseum lauten, denn hier werden Figurinen eigens für die Präsentation von historischer Kleidung gefertigt

Ein Beitrag von Caroline Lerch

Die textile Sammlung am LVR-Industriemuseum

Seit dem Ende der 1980er Jahre sammelt das LVR-Industriemuseum Bekleidung. Die Sammlung umfasst inzwischen rund 20.000 Objekte und reicht von 1780 bis zur Gegenwart. Schwerpunkt ist die Alltagskleidung, die aus allen gesellschaftlichen Schichten kommt und den jeweilig typischen Charakter einer Epoche widerspiegeln soll. Im sogenannten Textildepot, das sich im zentralen Sammlungsdepot, dem Peter-Behrens-Bau in Oberhausen, befindet, ist die weitgefächerte Textilsammlung des LVR-Industriemuseums untergebracht. Hier lagern sowohl bedruckte Baumwollkleider aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, Charlestonkleider aus schillernder Seide, als auch geflickte Notkleidung aus den 1940er Jahren, Petticoats der 1950er, Nyltesthemden, Schlagjeans oder Parka.

Link zum Blogbeitrag über das Depot des LVR-Industriemuseums

Link zu einem Artikel über Charlestonkleider

Link zu einem Artikel über Nyltesthemden

Link zu einem Artikel über Schlagjeans

An mehreren Standorten des Museums werden regelmäßig Ausstellungen mit textilem Schwerpunkt gezeigt. Im Fokus der Ausstellungen steht nicht die Mode an sich, sondern sozial-, kultur- und alltagsgeschichtliche Fragen, welche die Kleidung in Bezug zum Menschen und der Gesellschaft in den Blick nehmen. Beispielsweise ist vom 11.07.2021-24.04.2022 am Standort Ratingen, der Textilfabrik Cromford, die Ausstellung „Modische Raubzüge. Von Luxus, Lust und Leid. 1800 bis heute“ zu sehen. In dieser Ausstellung geht es um den Konsum und die Verwendung tierischer Materialien in der Mode.

Für alle Ausstellungen des LVR-Industriemuseums werden die historischen wie modernen Kleidungsstücke auf sogenannten Figurinen, ähnlich einer Schneiderpuppe, gezeigt: Zwischen 100 und 160 Einzelfigurinen präsentieren dafür häufig komplette Ensembles aus mehreren Kleidungsstücken und Accessoires.

Link zur Ausstellung „Modische Raubzüge. Von Luxus, Lust und Leid.“

Die Frage nach der richtigen Präsentation historischer Kleidung

Kleidung ist dreidimensional, sie benötigt einen Körper, um ansprechend und in ihrer gedachten Form präsentiert zu werden. Aufgrund dieser Dreidimensionalität ist die Präsentation von Kleidung auf Figurinen ein wichtiges Mittel, um ein Bild der Silhouette, der Körperproportionen und somit der/s ursprünglichen Trägerin/s und des jeweils zeittypischen Körperbildes zu vermitteln. Eine Figurine kann von allen Seiten betrachtet werden, anders als ein Textil, was flach in eine Vitrine gelegt oder auf einem Kleiderbügel präsentiert wird. Wichtige Details eines Kleidungsstückes, die den Schnitt, das Muster oder die Funktion betreffen, können auf einer Figurine gut in Szene gesetzt und so dem Besucher erklärt werden. Durch das Aufziehen auf eine Figurine erwacht die Kleidung in gewisser Weise wieder zum Leben.

Drei verschiedene Papierfigurinen stehen auf einem Tisch. Sie haben zum Beispiel eine unterschiedliche Farbe oder Bein- beziehungsweise Armansätze.
Verschiedenste Figurinentypen nutzt das LVR-Industriemuseum für seine Ausstellungen, Foto: LVR-Industriemuseum

Bei der Anfertigung von Figurinen und der Präsentation von historischer Kleidung sind allerdings zahlreiche Aspekte zu beachten. Neben vielen konservatorischen müssen auch gestalterische Fragen geklärt werden. Optimal ist eine ästhetisch und optisch ansprechende Präsentation, die sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängt oder das Kleidungsstück in seinem Erscheinungsbild verändert. Die Farbgebung, Oberfläche und Gestaltung der Figurine sollte keinesfalls in Konkurrenz zum Kostüm treten.

Hinzu kommt die Sicht der Restauratorin: Von ihrem Standpunkt her ist eine exakt angepasste Figurine, auf der das Kleidungsstück perfekt sitzt ein vorrangiges Muss, um das Stück nicht unnötig zu belasten oder gar zu schädigen. Dies kann z.B. durch Überdehnung des Gewebes oder Überlastung einer Naht durch zu wenig oder falsche Stützung geschehen. Wichtig ist, dass das instabile bzw. fragile textile Objekt möglichst über seine gesamte Fläche gestützt wird, um das Gewicht des Textils gleichmäßig zu verteilen und die Möglichkeit der Schadensbildung zu verringern. Diese gleichmäßige Gewichtsverteilung bei Kleidung kann aber nur geschehen, wenn das Kleidungsstück von einer passgenauen, individuell angefertigten Figurine getragen wird. Von großer Bedeutung ist auch die Wahl des Materials, aus dem die Figurine hergestellt wird. Es dürfen keine schädlichen Stoffe an das Textil abgegeben werden, ebenso müssen möglichst alterungsbeständige Materialien verwendet werden.

Am LVR-Industriemuseum werden fast ausschließlich getragene Kleidungsstücke gesammelt, die demnach von keinem „Standardkörper“, sondern von ganz individuellen Körpern getragen worden sind. Die Silhouetten und Körpermaße des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts weichen stark von den Maßen heutiger Körper und den heutigen handelsüblichen Standard-Figurinen ab. Dies bedeutet, dass der Figurinenkörper dem jeweiligen Kleidungsstück angepasst werden muss, damit es schadensfrei und historisch korrekt in einer Ausstellung präsentiert werden kann. Mit bedacht werden muss auch, dass der weibliche Körper fast immer durch Mieder, Korsetts oder Büstenhalter in eine Idealform gebracht wurde, die natürlich auch in der Ausstellung vermittelt werden soll und daher auf die Figurine übertragen werden muss. Eine Figurine für eine Ausstellung, die z.B. ein Kleid um 1900 mit der damals typischen S-Silhouette präsentieren soll, bildet also nicht nur den Körper, sondern die mit einem Korsett zeittypisch geformte Figur nach.

Maẞband, Messer, Kleister und Papier – die Herstellung einer Papierfigurine

Um die Maße einer genormten, handelsüblichen Figurine auf die erforderlichen, gewünschten Proportionen zu bringen, ist teilweise ein großer Zeit- und Arbeitsaufwand durch Anproben der Kleidung erforderlich.

Als Grundform für eine Papierfigurine wird eine handelsübliche Standard-Figurine aus Polyurethan-Hartschaum verwendet. Durch Wegschnitzen und –schleifen sowie Aufpolstern mit Polystervlies werden die Maße passend verändert. Diese Grundform wird zunächst mit dünner Folie umwickelt. Die Folie dient als Sperrschicht, damit die Feuchtigkeit des später zum Kleben verwendeten Kleisters nicht in den Figurinnenkörper zieht. Als weiteres Material wird in Streifen geschnittenes, säurefreies Vorsatzpapier verwendet. Damit die Streifen flexibel werden und sich gut um die Rundungen des Körpers legen lassen, müssen sie zunächst gut gewässert werden. Diese Streifen werden dann mit Kleister eingepinselt und in vier bis fünf Schichten auf die Grundform geklebt. Bei dem Kleister handelt sich um einen gekochten Kleister aus Weizenstärke. Stabilität erreicht die Papierform dadurch, dass die Streifen in vier bis fünf Lagen längs, quer und diagonal gegenläufig geklebt werden. Nach dem Trocknen der Streifen, die nun einen festen, geschlossenen Verbund bilden, und Abnehmen von der Grundform, bleibt die gewünschte Papierfigurine als hohle Form zurück. Die Folie verbleit auf der Grundform. In den Hohlkörper wird eine Bodenplatte aus Ethafoam oder Holz eingesetzt, sodass ein Ständer montiert werden kann. Die so gefertigte Papierfigurine ist stabil genug, dass mehrlagige schwere Kostüme auf ihr gezeigt werden können, ohne dass der hohle Papierkörper sich verformt oder gar bricht.

Problemlos lassen sich mit dieser Methode Figurinenkörper mit Arm- und Beinansatz, Po, schmaler Taille, großer Büste usw. erstellen. Arme und Beine werden nachträglich durch Polyestervlies-Polster ergänzt, ebenso werden ggf. erforderliche Stütz- und Unterkonstruktionen wie Reifröcke oder Tournüren (Po-Polster) in der Restaurierungswerkstatt hergestellt und nachträglich ergänzt.

Weitere Vorteile von Papierfigurinen

Auf den ersten Blick scheint die Herstellung einer Papierfigurine arbeits- und zeitintensiv. Das relativiert sich allerdings: Die vorgeformten Grundformen zum Abformen der Figurine lassen sich bei Bedarf problemlos wiederverwenden. Alle für den Figurinenbau eingesetzten Materialien sind leicht zu beschaffen, nicht zu kostenintensiv, für die Umwelt und den Menschen unschädlich und aus konservatorischer Sicht für die Textilien unbedenklich.

Für ein Museum bieten diese Figurinen weitere Vorteile. So können die Papierfigurinen mit handelsüblichen Werkzeugen und gut erlernbarem, handwerklichen Geschick von den Textilrestauratorinnen in der museumseigenen Restaurierungswerkstatt hergestellt werden. Es müssen keine Arbeiten bei externen Gewerken in Auftrag gegeben werden. Auch lassen sie sich der jeweiligen Ausstellungsgestaltung durch freie Farbwahl des säurefreien Papiers sowie der Möglichkeit, den Figurinenständer auszutauschen, anpassen. Hinzu kommt, dass sich die Papierfigurinen aufgrund ihres geringen Gewichtes leicht transportieren und lagern lassen. Eine gute Schutzhülle für den Transport und die Lagerung des Papiertorsos ist allerdings notwendig, um die Figurine vor Staub, Nässe und Druckstellen zu schützen.

Beschädigung an der Figurine wie kleinere Verschmutzungen auf dem Papier des Figurinenkörpers, lassen sich meist mit einem weichen Radiergummi ganz leicht entfernen. Bei größeren, hartnäckigen Verschmutzungen, Löchern, Rissen etc. kann einfach eine komplette, neue Lage Papierstreifen über den Körper geklebt werden; so kann die Figurine weiter genutzt werden.

Aus all den genannten Gründen lässt das LVR-Industriemuseum in der hauseigenen Textilrestaurierungswerkstatt Figurinen für die Präsentation historischer Kleidung aus Papier anfertigen.

Zum Abschluss noch ein Vergleich:

Das Foto zeigt einen historischen rosafarbenen Frack auf einer Figurine. Der Frack sitzt nicht gut und steht am Rücken ab.
Dieses Foto zeigt einen Herrenfrack um 1780 auf einer heutigen Standardfigurine, Foto: LVR-Industriemuseum
Das Foto zeigt den historischen rosafarbenen Frack auf einer eigens angefertigten Papierfigurine. Der Frack sitzt sehr gut und steht nicht ab.
Dieses Foto zeigt den gleichen Frack auf einer eigens für dieses Kleidungsstück angepassten Figurine, Foto: LVR-Industriemuseum

Caroline Lerch ist seit 1999 für das LVR-Industriemuseum im Bereich der Textilsammlung tätig. Sie arbeitet vor allem in der Restaurierung im Textildepot des Peter-Behrens-Baus und bereitet Ausstellungen in den verschiedenen Standorten des Museums vor oder inventarisiert die textilen Objekte. Ihr obliegt auch die Pflege und Konservierung der Textilsammlung.

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